the SCI Archives the SCI Archives
Menzi Martin

1929 - 2024

 

Source

Interview with Nicole Cornu (17.11.2017)

  

Ein Gespräch mit Martin Menzi (17.11.2017)

Eine allgemeine Dienstpflicht für alle?

Ich habe heute die Idee, dass man eigentlich nicht den Militärdienst abschaffen sollte, sondern eine allgemeine Dienstpflicht für junge Leute einführen. Die die unbedingt in die Armee gehen wollen, können ja in die Armee gehen. Aber wir haben so viele Bedürfnisse: Umwelt, Soziales etc. In unserer heutigen Gesellschaft hätten wir so viele Aufgaben und Möglichkeiten einer sinnvollen Dienstleistung für alle - Männer und Frauen, die man anbieten bzw. einfordern könnte. Die Palette an Zielgruppen und Einsatzmöglichkeiten für den Zivildienst müsste klar erweitert werden, v.a. in den sozialen Bereich hinein, denn dort ist Bedarf.
Bei der GSoA bin ich seit Anfang an dabei, aber politisch, psychologisch, strategisch ist eine Initiative zur Abschaffung der Armee wohl der verkehrte Ansatz. Hingegen müsste man die Einsatzpalette beim Zivildienst erweitern und von allen zusammen fordern, unserer Gesellschaft einen Dienst zu leisten.
Ein gutes Beispiel kenne ich aus Bhutan: Dort gab es einen einjährigen Social Service für alle die, die eine Ausbildung bis auf Mittelschulstufe abgeschlossen hatten. Diesen konnten sie in verschiedensten Funktionen und Einsatzorten leisten: Beispielsweise in Schulen, Genossenschaften oder weiteren gemeinnützigen Projekten. Für die, die ich kenne und die so einen Dienst geleistet hatten, war dies eine wahnsinnig wertvolle Erfahrung. Dies ist es auch für Schweizer Zivildienst-Leistende: Die Erfahrung, einmal aus dem monetär-orientierten Tun auszusteigen, nicht nur nach dem Lohn zu fragen, sondern nach dem Sinn der Arbeit, die man macht.»

Besteht nicht die Gefahr, dass mit dem Zivildienst das kompensiert wird, was der Staat nicht mehr fähig ist, zu leisten?

Der Staat ist nicht nicht mehr fähig, sondern nicht mehr willens, dies zu leisten. Das Geld fehlt uns ja, weil er die Steuern nicht erhöhen, sondern Steuern sparen will.
Ich sehe den Zivildienst mehr als einen Dienst an der Allgemeinheit und an der Gesellschaft. Das kann von mir aus zu einer Form von Steuer werden, die man nicht in Franken und Rappen bezahlt, sondern in Stunden, Tagen und Monaten. Why not? Wenn es für alle gleich ist und alle Bürger/-innen einen allgemeinen Zivildienst entsprechend ihrer Möglichkeiten, Fähigkeiten und Interessen leisten können, der einem Bedarf der Gesellschaft entspricht. Auf jeden Fall müsste man den Begriff Dienstpflicht von der Armee entkoppeln. Das ist ein wichtiger Punkt. Die GSoA-Initiative war zu stark Armee orientiert. No chance! Immerhin, sie konnte ein recht beachtliches Abstimmungsergebnis erzielen (Anmerkung: im Jahr 1989 stimmten rund 35.6% der Abstimmenden für die Initiative «Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik»).
Eine allgemeine Dienstpflicht dürfte durchaus etwas kosten, aber man würde lieber das Geld in so etwas stecken, das der Allgemeinheit nützt, denn in neue Militärflugzeuge. Früher waren die grossen politischen Themen innerhalb des Service Civil International (SCI) Schweiz Pazifismus und Zivildienst. Dass diese Themen Junge heute weniger ansprechen ist in einem gewissen Mass auch verständlich. Meinerseits wurde ich 1929 geboren. Eine prägende Zeit meiner Jugend – von 1939 bis 1945 – habe ich während des Zweiten Weltkrieges erlebt. Das war für mich natürlich ein zentrales und vitales Thema, mit dem ich mich in dieser Lebensphase intensivst damit auseinander gesetzt habe. Und dann gab es auch Leute, die mich inspiriert haben, wie mein Mathematik-Lehrer, der bereits ein langjähriger Zivildienstleistender war. In Bern organisierten wir in den 1940 Jahren die Berner Friedenswochen: damals war das ein Thema. Uns wurde bewusst, dass ein dauerhaftes Kriegsende nicht garantiert ist, wenn wir uns nicht mit diesen globalen, sozialen und wirtschaftlichen Differenzen auseinandersetzen. Diese Kriegserfahrung haben junge Menschen heute (glücklicherweise) nicht gemacht.
Heute hingegen ist die Flüchtlingssituation etwas, das die Menschen auch in der Schweiz bewegt und es wird uns auch in Zukunft, sogar zunehmend, beschäftigen. Mit der Entwicklung dieser globalen Differenzen, wo die sozio-ökonomische Schere immer weiter auseinander geht. Auch wenn es neben den Kriegsflüchtlingen auch Wirtschaftsflüchtlinge geben mag: ich verstehe, dass diese nach Europa kommen. Hier stehen wir vor gewaltigen Aufgaben, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Mir wurde damals ein ganz anderer Weg gewiesen: aus dieser unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegserfahrung hinaus, dem Abbau des Kolonialismus Ende 1940/50er Jahre. Zu Helvetas kam ich über den Zivildienst. Bei Helvetas war ich Gründungsmitglied, beim Service Civil International (SCI) Schweiz war ich einige Jahre im Komitee und Co-Präsident, später auch bei Helvetas Präsident, ich bin einer aus dem «Filz» der damaligen Zeit. Dem Gründer vom SCI Schweiz, Pierre Cérésole (1879-1945), bin ich knapp nicht mehr begegnet. Mit Hansjörg Braunschweig waren wir in den 1950er Jahren ein gutes Team. Er war lange Zeit Sekretär vom SCI Schweiz, damals noch an der Gartenhofstrasse 7 in Zürich (Anmerkung: noch heute Geschäftsstelle des Schweizerischen Zivildienstdachverbands CIVIVA und dem Schweizerischen Friedensrat. Mehr zu dieser historisch wichtigen Adresse hier: www.friedensrat.ch/friedensrat/uber-uns/geschichteerfolge/). Das war ein Netzwerk von damals sog. «zweifelhaften» Gruppierungen. In den 1950er Jahren waren wir beispielsweise fichiert, weil wir gegen die Atombombe waren. Für mich persönlich führte der Weg dann nicht vom Zivildienst weg, sondern hinüber in die Entwicklungszusammenarbeit. Dort bin ich später vielen ehemaligen Zivildienstlern begegnet.

Noch heute gibt es Freiwillige, die Einsätze beim SCI Schweiz machen, um sich damit einen Zugang in die internationale Zusammenarbeit (IZA) zu eröffnen. Möchte man heute eine Stelle in der IZA finden, muss man oft bereits über erste Feld-/ Auslandserfahrung verfügen.

Ruedi Olgiati war in den 1940er, nein, bis in die 1950er Jahre hinein, einmal Sekretär des Schweizer Zweigs vom SCI. Er war in der Spanienhilfe engagiert, später war er Sekretär der Schweizer Auslandshilfe etc.
Ich besuchte in Bern die Mittelschule und hatte so genug von der Schule, als es auf die Matur hinzu ging, so dass ich zu Ruedi ging und sagte «ich möchte nicht mehr weiter in die Schule, sondern etwas Sinnvolles machen». Da erwiderte er mir: «dein Idealismus ist gut und recht, aber wir brauchen nicht nur zwei Hände und einen Willen, sondern du musst einen handfesten Beruf mitbringen. In der globalen Entwicklungszusammenarbeit war damals Hunger ein grosses Thema. Das führte dazu, dass ich mich entschied, doch eine Matura zu machen und später – nach einem weiteren Zivildiensteinsatz – an der ETH Zürich Landwirtschaft zu studieren. Das habe ich studiert, um mich in die globale Ernährungskette einzuschalten. Heute noch mit der grundsätzlichen Orientierung und Einstellung, die ich vom Zivildienst herbrachte und später angesichts der globalen Herausforderungen weltweit: in Indien war ich in einem Landwirtschaftsprojekt, in Bhutan war ich im Sektor Landwirtschaft, später in der Ausbildung und Forschung usw. Ich denke, dass unsere Generation, damals klare Herausforderungen und Zielsetzungen hatte, im Gegensatz zur heutigen Situation, wo man nicht mehr klare und einfache Konstellationen hat, wie wir sie damals hatten. Für uns war die Orientierung damals viel einfacher, denn für die jungen Leute heute.

Auch in der aktuellen globalen Agenda 2030 und den weltweiten nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals, SDGs) lautet das Ziel Nummer 1 nach wie vor Keine Armut, gefolgt von Ziel Nummer 2 Kein Hunger. Das sind die Ziele für die du dich mit deinen Landwirtschaftsprojekten bereits in den 1950er Jahren eingesetzt hatten. Haben wir denn bisher in diesem Bereich nichts erreicht?

Rein zahlenmässig – absolut und vor allem relativ – ist der Anteil derer die weltweit an Hunger leiden zurückgegangen. Die Nahrungsmittelproduktion konnte mit der Bevölkerungsentwicklung mehr als Schritt halten. Gemäss unserer damaligen Zielsetzung ist das ein Erfolg. Aber auf der anderen Seite sind die Unterschiede zwischen den Ärmsten und den Reichsten heute grösser und nehmen weiterhin zu. Und schlussendlich ist dies entscheidend: Nicht, ob du dein Stück Brot hast, sondern wie du dich in der Gesellschaft fühlst. Und wenn jemand ständig den Eindruck hat, dass er/sie benachteiligt ist und es den anderen viel besser geht, v.a. auf Kosten von anderen (und das ist heute so: uns geht es besser auf Kosten von vielen anderen), dann schafft dies Spannungen. Das Welternährungsproblem heute ist nicht mehr ein technisches.

Früher hatte man hier den Eindruck, dass die Armen in Drittweltländern vorwiegend aus dem Grund arm sind, weil sie nicht wissen wie anbauen. Heute weiss man, dass es eher wegen Krieg, Korruption etc. ist.

Heute wissen wir schon, wie man Nahrungsmittel produzieren müsste, aber diese nachher fair zu verteilen, sinnvoll einzusetzen und richtig zu nutzen, auch ökologisch bezogen auf die ganze Umweltproblematik, das steht heute an. Und was meines Erachtens das Positivste ist an der Neuformulierung der Sustainable Development Goals im Rahmen der Agenda 2030 ist, dass auch wir, unsere westliche Gesellschaft hier gefordert ist. Bis 2015 wurde Entwicklungshilfe und internationale Zusammenarbeit immer als Hilfe an den Süden verstanden. "Grosszügig" gaben wir und zeigten, wie die Anderen es machen sollten und heute realisieren wir und akzeptieren erstmals offiziell, dass das wir hier nicht die Lösung sind, sondern der Grund vom Problem und dass wir über unsere eigenen Bücher gehen müssen. Deshalb sind wir heute in dieser Desorientierung drin. Auch in der Bundesverwaltung. Die Ämter wissen noch nicht, welches ihre Rolle im Rahmen der Agenda 2030 ist. Angesichts dieser neuen Herausforderungen scheint man seinen Platz noch nicht gefunden zu haben. Wir müssen uns mit der Verursachung der weltweiten Probleme auseinandersetzen und da spielen wir eben nicht nur die Rolle vom grosszügigen Helfer und Geldgeber, sondern vom Verursacher und Nutzniesser des globalen Ungleichgewichts. Das klingt vielleicht ein bisschen pathetisch, aber wir können es schon konkretisieren. Ich sehe es beispielsweise auch in Indien: Indien wurde sozusagen zu unserer zweiten Heimat. Als wir in den 1960/70er Jahren das erste Mal nach Indien gingen, hiess es: Indien ist ein hoffnungsloser Fall. Heute hat sich Indien wahnsinnig entwickelt. Wir merkten rasch, dass die Inder/innen mindestens so gescheit sind wie wir, resp. sahen wir das nie anders. Die Entwicklung in Indien selber ist fast noch dramatischer, denn global. Die indische Gesellschaft entwickelt sich so stark auseinander, dass es einem nur Angst machen kann. Die reichsten Menschen und auch die ärmsten Menschen weltweit finden sich heute in Indien. Und zwar in grossen Zahlen: zu Millionen. Wie Indien damit umgeht, ist nicht unproblematisch und gibt nicht nur zu Hoffnung Anlass. Aber: Sie sind meiner Meinung nach auf besserem Weg als wir. Ich will nicht pessimistisch sein, aber ich denke, dass wir uns auf einem absteigenden Ast befinden. In den 1950er Jahren wurden wir, als wir diese Öffnung thematisierten, dazu aufgefordert, dass wir NGOs eine Volksbewegung in der Öffentlichkeit starten müssten und dann die staatlichen Akteure schon folgen würden. Die Behörden und der Bund. Der damalige Aussenminister Petitpierre sagte uns: Wenn ihr in der Schweizerischen Zivilgesellschaft thematisieren könnt, dann würden sie von Bundesseite dann schon nachziehen. 1955 gründeten wir Helvetas. 1961 zog der Bund mit der Schaffung des sog. Dienst für technische Zusammenarbeit DftZ, der heutigen DEZA, nach. Heute stehen wir wiederum vor einer ähnlichen Situation: Wie können wir das globale Thema der Nachhaltigen Entwicklung hier bei uns in unserer Gesellschaft zum Bewusstsein bringen, dass sie eine Herausforderung für uns darstellt. Und wir uns als Beteiligte verstehen, nicht primär als "grosszügige" Helfer.

Ich merkte, dass ich persönlich zum Teil eine verzerrte Wahrnehmung habe. Mein direktes Umfeld sind mehrheitlich Leute, die ziemlich sensibilisiert und engagiert sind. Es gibt Anzeichen, die mich hoffen lassen, dass langsam ein Umdenken beginnt. Beispielsweise, ob es erstrebenswert ist, ein eigenes Auto zu besitzen oder Wohneigentum. Ob man wirklich immer die allerneusten technischen Geräte besitzen muss… Ein Schlagwort, welches in letzter Zeit immer häufiger fällt, ist "Achtsamkeit".
Heute fühlen sich viele Menschen reizüberflutet und unter gesellschaftlichem Leistungsdruck. Es sind so viele Kommunikationskanäle, mit denen wir heute jonglieren und stark abgelenkt werden. Konzentration und Fokus erfordern heute sehr viel Selbstdisziplin. Ansonsten droht man im Hamsterrad zu erschöpfen. Mehr und mehr Menschen merken, dass diese Entwicklungen nicht gesund für uns sind. Viele leiden unter Stress und Depressionen. Viele sind unglücklich, obwohl ihnen an nichts mangelt. Es gibt Menschen, die viele soziale Kontakte haben und sich dennoch einsam fühlen. Das bringt die Leute zum Nachdenken: Ist es jetzt das, was ich mir immer erträumt habe? Ist das jetzt der Zenit der gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklung? Ist weniger vielleicht nicht doch mehr? Beispielsweise in einer Wohngemeinschaft zu wohnen, obwohl man sich eine eigene Wohnung leisten könnte? Kleidung wieder vermehrt Secondhand zu kaufen? Bewusst eine kleinere Auswahl an Produkten vorzuziehen? Und Entscheidungsdilemmata bewusst zu verringern. Das Leben wieder einfacher zu machen erscheint vielen als Bedürfnis.

Ich sehe durchaus positive Anzeichen und Signale. Aber wie du sagst: Du und ich auch, leben in einem Umfeld, welches sensibler ist. Und entsprechend reagiert. Dennoch glaube ich, dass eine zunehmende Anzahl von Menschen realisiert, dass wir so nicht weiterwursteln können. Ob es zu einer politischen Umorientierung führen kann, vermag ich nicht zu sagen.

Meine grosse Sorge ist, dass es nicht zu dieser politischen Wende vermag. Selbst unter meinen gebildeten und zum Teil sogar gesellschaftlich engagierten Freund/innen sind viele relativ apolitisch. Aus reiner Neugierde interessiert es mich, dich zu fragen, ob du Mitglied einer politischen Partei bist.

Nein, ich war nie Mitglied einer politischen Partei. Vielleicht bewusst. Auch von meiner Familie her: Wir waren nicht politisch fixiert. Ich wuchs eher in einem pietistischen Umfeld auf. Aber meine Sympathien sind sehr klar und eindeutig. Aber ich habe mich nie formell gebunden. Ich finde noch heute, dass ich frei bin zu wählen und zu entscheiden, aber ich bin sehr interessiert bis engagiert, aber nicht parteipolitisch gebunden. Meine Freund/innen sind v.a. im Sektor der SP und der Grünen. Wir mussten uns mit der politischen Situation sehr auseinandersetzen, in Verbindung mit der Entwicklungszusammenarbeit, die wir lancierten und propagierten. An sich hatten wir immer gute Unterstützung, mehr von Mitte-links, Links, aber zum Glück konnten wir Parteipolitik immer draussen halten. Ein Beispiel, welches mich immer beeindruckte, war Walter Renschler. Walter Renschler war zu seiner Zeit eine markante SP-Figur. Er war von Anfang an bei Helvetas dabei. Lange Jahre war er Vize-Präsident des Zentralvorstandes. Mehr als einmal kam die Frage auf, ob er nicht das Präsidium übernehmen wolle, aber er lehnte jeweils ab mit der Begründung "nein, ich will nicht, dass Helvetas das Label SP aufgeklebt wird." Das finde ich grossartig. Bis hin zu Ruth Dreifuss. Nein, ich bin parteipolitisch nicht gebunden.

Unter Sensibilisierten fangen viele an ökologischer einzukaufen oder in einem Gartenprojekt mitzumachen. Oder sie unterrichten Flüchtlingen Deutsch. Meines Erachtens ist das alles gut und wichtig, aber das allein ändert noch nichts an der Politik. Dafür müsste man sich dann doch kollektiv zusammenschliessen und sich auch politisch organisieren und engagieren.

Das ist auch meine grosse Frage. Ich habe Kontakt mit den Leuten, die sich mit der Agenda 2030 befassen. Wie könnten wir das zu guter Letzt in ein politisches Bewusstsein bringen? Es gibt viele individuelle Leute, die sich der Situation bewusst sind und sich in ihrem engsten Kreis des persönlichen Lebens danach richten, aber politisch wirkt es sich nicht aus. Eine ähnliche Situation, die ich in den letzten Jahren erlebte in Indien. Bis vor kurzer Zeit gingen wir noch ab und an wieder nach Indien zurück und haben viele Freunde dort. In unserem Freundeskreis in Indien gibt es eine grosse Frustration im Hinblick auf die Politik, die Parteipolitik. Aber wir kennen in unserem Freundes- und Bekanntenkreis kaum jemand der/die sich nicht persönlich engagiert in sozial-karitativen Aktionen und Projekten. Damit es sich politisch niederschlägt, dafür fehlt vielleicht einfach noch der Leidensdruck.

Wir sind nach wie vor übersättigt. Das macht träge.

Wir sind wohlstandsgeschädigt.

Die ganze Politik und auch die Wirtschaft, hat nun jahrelang darauf hingearbeitet uns zu individualisierten Individuen zu machen. Jede/r sei selber für sein Glück verantwortlich, jede/r müsse für sich alleine schauen… dies hinterlässt Spuren. Selber habe ich mich aufgrund eines systemischen Politikverständnisses für eine formelle Parteimitgliedschaft entschieden. Weil ich es in unserem politischen System als wichtig erachte, eine Partei zu unterstützen. Dort zahle ich meinen Mitgliederbeitrag und gehe ab und an an eine Veranstaltung. Dort bekomme ich Informationen vermittelt, zu denen ich sonst nicht so leicht einen Zugang hätte. Zudem ist es ein Netzwerk. Auch bei der Gewerkschaft habe ich mich für eine Mitgliedschaft entschieden. Dort merke ich, dass viele der Arbeitgeber, die Menschen in den Bereichen Arbeitsintegration arbeiten oder im Flüchtlingswesen beschäftigen gar nicht so soziale Arbeitgeber sind. Der Staat hat ja viele seiner Aufgaben ausgelagert und mandatiert Organisationen damit über sog. Leistungsverträge, aber immer zeitlich befristet. Sobald sich die Lage ändert, werden die Arbeitnehmenden wieder entlassen. Als zivilgesellschaftliche Organisationen sollte man nicht nur für die Klient/innen schauen, sondern hat auch den eigenen Angestellten gegenüber eine Verantwortung. Wenn ich hingegen mit direkt betroffenen Kolleg/innen spreche, dann sehen alle ihren Stellenverlust als ihr eigenes individuelles Schicksal an. Wenn ich nachfrage, ob sie sich irgendwie engagieren, um sich den Entscheiden zur Wehr zu setzen, dann erzählen sie mir von jemandem aus der Familie der Rechtsanwalt ist. Dass sich die Betroffenen auch zusammenschliessen könnten und als Kollektiv zu einem politischen Thema machen, das kommt ihnen nicht in den Sinn. ieses Kollektivbewusstsein scheint vielen zu fehlen.

Die eine oder andere Situation, die du ansprichst, könnte man gar nicht schlecht auffangen, indem man eine allgemeine Zivildienstpflicht hätte. Wenn man junge Menschen für ein Jahr lang hätte und sich diese anschliessend wieder in ihr Berufs- und Gesellschaftsleben integrieren würden. Das wäre eine Möglichkeit. Klammer zu.
Den Individualismus, den wir fördern, wird ein wichtiger Grund sein, dass wir – in der Auseinandersetzung mit Asien, welches bei weitem noch nicht so individualistisch geprägt ist – den Kürzeren ziehen werden. Das Gemeinschaftsbewusstsein ist in Asien noch ganz ein anderes als bei uns. Und das ist eine ungeheure Stärke. Unser Individualismus der bis zur Schizophrenie führt ist ein Handicap.

Persönlich kenne ich Asien leider gar nicht. Ich war noch nie dort. Mein Eindruck ist, dass es ein geographisch grosser Raum ist mit sicherlich vielen Unterschieden. Von Japan, wo man hört, dass Leute sich zu Tode arbeiten.

Ja, Japan ist natürlich auch Asien, aber wirtschaftlich und gesellschaftlich stark geprägt von unseren Wertvorstellungen und Zielsetzungen. Habe ich zumindest den Eindruck. Ich war nie in Japan.

Du beziehst dich vor allem auf Indien und Bhutan?

Ja, Indien und Bhutan. Was wir in der Auseinandersetzung mit China erlebt haben, ist wirklich pitoyable. Wie sich Trump da hofieren liess. Aber gut, er ist wirklich einer der traurigsten Figuren. Dass man so einen zum Präsident macht, verstehe ich nicht. Wir haben auch solche. Plakativ gesagt und vereinfacht zusammengefasst habe ich den Eindruck, dass Asien im Kommen ist und Europa am Gehen. Vor allem aus Gründen gesellschaftlicher Wertvorstellungen.

Zurückkommend auf deine Idee von einem allgemeinen Zivil-, Sozial- oder Gemeinschaftsdienst: Im schulischen Bereich kenne ich Programme wie das vom Migros Kulturprozent geförderte "Service-learning". Dort müssen Schüler/innen einen Gemeinschaftsdienst im Rahmen der Schulzeit machen. Für mich war angeordnete Freiwilligenarbeit lange ein Tabu, denn wie es der Name besagt, sollte diese eigentlich "freiwillig" geleistet werden. In Amerika scheint dieser obligatorische Sozialdienst jedoch fest verankert zu sein: wer eine gute Universität besuchen will, muss neben seinen schulischen Kompetenzen auch soziales Engagement ausweisen können. Und/oder sportliches Engagement. Offenbar gibt es Studien, die zeigen, dass wer einmal in Kontakt gekommen ist mit Freiwilligenarbeit (selbst "gezwungenermassen"), die Quote derer, die auch später noch freiwillig solche Einsätze machen höher ist, als die derer, die nie in Kontakt mit Sozialdienst gekommen sind. Vielleicht, weil Menschen sonst gar nicht wissen, welche Einsatzmöglichkeiten es gibt und wie es sich anfühlt, gesellschaftlich sinnvolle Freiwilligenarbeit zu leisten. Aus diesen Gründen kann ich mich mit der Idee anfreunden, dass Freiwilligenarbeit auch obligatorisch erklärt werden kann. Aber es erscheint wichtig, dass jede/r den Einsatzort ihren/seinen Interessen entsprechend auswählen kann. Ich möchte beispielsweise nicht, dass Flüchtlinge von Menschen betreut werden, die dazu verknurrt wurden. Es braucht eine gewisse intrinsische Motivation und Überzeugung für den Einsatzort.

Auch das ist zu einem guten Teil eine Frage von Wertvorstellungen und Wertsystemen, die in unserer Gesellschaft verankert sind. Du sagtest, dass der Prozentsatz derer, die sich auch später noch zur Verfügung stellen, höher ist, wenn sie Freiwilligenarbeit aus einer allgemeinen Verpflichtung heraus einmal kennengelernt haben. Oftmals realisieren sie ja erst aus dem eigenen Erleben, was es auch für sie selber für eine wertvolle Erfahrung sein kann. Es ist nicht wie bei Erwerbsarbeit nur ein monetärer Return. Sondern andere Aspekte, die viel, viel wichtiger und nachhaltiger sein können. Für mich persönlich ist das eine prägende Erfahrung des Zivildienstes. Sich für etwas einzusetzen, das einem wertvoll ist und mit dem man sich identifiziert und bei dem man nicht danach fragt, was man dafür bekommt. Plötzlich merkt man, dass man im weitesten Sinne reich belohnt wird.

Aber das heisst, dass du militärpflichtig warst - und dann?

Ja, ich ging in die Rekrutenschule, aber habe nicht mehr gemacht als das Minimum. Wie es zu dem Wandel kam, ist eine eigene Geschichte…

Und die Wiederholungskurse?

Die habe ich auch gemacht. Aber ich war ein guter Teil davon im Ausland.

Aber das heisst, dass du selber nie Zivildienst als Militärersatz gemacht hast?

Nein. Ich machte in meinem Leben länger Zivildienst als Rekrutenschule.

Wann hast du denn damit begonnen? Während dem Studium?

Nein, in der Mittelschule. 1947, mit 18 Jahren. Das war damals die Alterslimite. In Sankt Stephan oben im Berner Oberland. Nach Unwettern räumten wir dort Geröll weg.

Den Zivildienst hast du jeweils in den Ferien gemacht?

Ja. In den Ferien. In der Schweiz habe ich vier Mal Zivildienst gemacht. Der längste Dienst in der Schweiz dauerte sechs Wochen. Zwischen Matur und Studium. Diesen Dienst leitete ich. In Frenkendorf im Baselbiet renovierten wir damals ein Kinderheim. Das war eine tolle Sache!

Du hast deine Einsätze zuerst in der Schweiz gemacht, bevor du ins Ausland gingst?

Ja, das war damals richtigerweise eine Bedingung. Man wollte vermeiden, dass die Leute nur mitmachen, um endlich mal ins Ausland gehen zu können in den 1940er Jahren. 1948 ging ich das erste Mal nach Deutschland. In Freiburg im Breisgau räumten wir ein zerbombtes Spital ab. Später war ich noch einmal in Ludwigshafen und einmal in England. Das waren damals alles sinnvolle Aufgaben!
Zwischen Matur und Studium musste ich damals ein Jahr aussetzen, weil man ein Praktikum machen musste und ich das Jahr noch nicht voll hatte. Also machte ich die Rekrutenschule, ein Praktikum und noch einen Zivildienst.

Das heisst man musste zu deiner Zeit auch bereits Praktika machen? Oder war das spezifisch von der ETH aus?

Ja, spezifisch von der ETH aus, für ein Studium in Landwirtschaft. Man musste ein Jahr Landwirtschaftspraxis machen. Einen guten Teil hatte ich schon, aber noch nicht das volle Pensum. Insgesamt habe ich sieben Zivildienst-Einsätze gemacht. Vier davon in der Schweiz, das war vorbildlich – ich ging also nicht nur wegen dem Ausland – zwei in Deutschland, einen in England. Und das in der Zeit von 1947 bis 1952/1953. Damals ging ich in Zürich in der Gartenhofstrasse ein uns aus.

Theres Bärtschi sagte mir, dass du ab 1954 Präsident vom Komitee gewesen seist.

Nach meinen Zivildienst-Einsätzen, jawohl. Einige Zivildienstler engagierten sich im Vorfeld der späteren Gründung von Helvetas. Von 1955 an, da war ich noch Präsident vom Zivildienst, begann ich mich beruflich mehr auf die Entwicklungszusammenarbeit auszurichten. Ich kam allerdings erst in den 1960er Jahren zu meinem ersten Einsatz. Aber ich war bei Helvetas voll dabei. Bin in den 1960er Jahren dort auch noch ins Präsidium aufgerückt. Für mich war das nicht ein Weggehen vom Zivildienst, sondern eine andere Form. In einem Bereich, der mir beruflich auch lag. Zu meiner Zeit leistete man im Zivildienst noch Einsatz mit Pickel und Schaufel!

Es gibt immer noch solche Einsätze, aber heute ist die Palette breiter, so dass die Leute auswählen können, was ihnen am meisten entspricht.
Wenn du sagen müsstest: Was war das eindrücklichste Erlebnis deiner sieben Zivildienst-Einsätze?

Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive aus man es betrachtet. Aber vom gesamten Setting her war es schon dieser Dienst 1948 im Nachkriegs-Deutschland. Da hat man diese Situation wirklich noch erlebt, dass man vom einen Tag auf den anderen nicht sicher war, ob man was zu Mittagessen zusammenkriegt. Deutschland hatte damals noch die alte Reichsmark. Dann wurde die Währungsreform umgesetzt und die Deutsche Mark eingeführt. Das war damals das Nachkriegs-Deutschland im Umbruch. Das beeindruckte mich schon.

Was beeindruckte dich genau?

Die Auswirkungen des Krieges, die Zerstörung. Wo wir Hand anlegten. Die Begegnungen mit den Menschen. Nicht nur mit Deutschen. Da entstanden Kontakte, die anschliessend über Jahre hielten.

Und in diesem Zivildienst-Einsatz war das auch eine internationale Gruppe? Aus welchen Ländern kamen die damaligen Teilnehmenden?

Ja, ja. Aus Europa: Deutschland und Frankreich. Aus der Schweiz waren wir zu zweit. England. Das war in etwa die Palette. Ein gutes Dutzend, wenn ich mich richtig erinnere.

Und ihr habt dort die lokale Zivilbevölkerung unterstützt?

Ja. Leute aus Freiburg selber. Die leben heute nicht mehr. Wir waren noch lange in Kontakt. Die hatten diesen Zivildienst an Ort vermittelt und organisiert. Sie mussten das von Null auf inszenieren. Dieses Nachkriegs-Deutschland hatte man damals wirklich noch erlebt. Diese Leute waren geprägt. Vor allem die Jüngeren. Ein Österreicher war auch dabei. Die waren geprägt von diesen Kriegserlebnissen. Und das bestärkte einem im Einsatz.

Und wo hattet ihr übernachtet?

Ein Teil dieses Spitals stand noch und hatte Räume, wo wir schlafen konnten sowie eine Küche, wo wir uns selber organisierten.

Und was ist das Wichtigste, was du aus diesen Zivildiensteinsätzen gelernt hast?

Ich sprach es, glaube ich, schon zwei-, dreimal an: Etwas Sinnvolles zu machen, womit man sich voll identifizieren kann. Und zwar nicht für Geld, sondern sich für eine Sache einzusetzen. Ganz allgemein zusammengefasst, war das das Wichtigste. Es war diese Vision, die wir hatten. Und eben der Pazifismus, der Anti-Militarismus - bezogen auf die Schweiz vor allem - war die politische Motivation. Ausgehend von diesen prägenden Kriegsjahren und dass es so einfach nicht mehr weitergehen darf.

Du sprachst die GSoA-Initiative zur Abschaffung der Armee an, aber dann gibt es ja auch noch die zum Verbot von Kriegsmaterial-Export. Dort dachte ich, dass das an der Urne eine grössere Chance hätte. Ich kann nachvollziehen, dass Menschen in der Schweiz sich mit dem Militär verbunden fühlen oder meinen, wir bräuchten die Armee vielleicht dann doch einmal. Aber dass wir Kriegsmaterial in Bürgerkriegsländer exportieren, das ist für mich völlig klar, dass das nicht sein darf. Dass nicht einmal so ein Anliegen eine Mehrheit in der Stimmbevölkerung findet, das frustriert mich.

Das führt dazu, dass man sagt, dass ein Arbeitsplatz in der Schweiz wichtiger ist als sieben Tote in Afrika oder Asien irgendwo. Das ist schlimm. Und das ist einer unserer Beiträge zur globalen Diskriminierung und Differenzierung. Viel schlimmer noch ist der Rohstoffhandel.

Diesbezüglich macht Public Eye (ehem. Erklärung von Bern) einen super Job. Dieser Rohstoffhandel gibt sich ja so bedeckt.

Das ist beängstigend und schlimm, ja. Ich war dabei, als wir die Erklärung von Bern in den 1960er Jahren gründeten. Dort habe ich immer noch persönlichen Kontakt und regen Austausch. Der Thomas Braunschweig ist bei Public Eye in Zürich und er war wesentlich beteiligt an diesem Buch. Thomas Braunschweig ist der Sohn von Hansjörg Braunschweig und Hansjörg Braunschweig war in den 1950er Jahren der Sekretär vom Zivildienst und später SP-Nationalrat, im eher linken Flügel. Lange Jahre war er Präsident vom Friedensrat. Das ist dieses Netzwerk, welches heute noch besteht.

Gab es denn noch weitere Zivildienstler mit politischen Mandaten auf nationaler Ebene? Oder haben sich die meisten eher zivilgesellschaftlicher denn politisch verstanden?

Ja, die meisten schon. Einer vom Landesring in den 1950/60er Jahren war ein guter Zivildienstler. Zivildienstler direkt im Parlament hatten wir nicht. Eher in der Entwicklungszusammenarbeit. Walter Renschler hatte ich bereits erwähnt. Bis zu Ruth Dreifuss natürlich. Wir waren Kollegen bei der DEZA, bevor sie zum Gewerkschaftsbund ist. Zivildienstler mit nationalen politischen Mandaten? Nein, so hoch haben wir es nicht gebracht (lacht). Da sassen wir meistens auf der Tribüne.

Würdest du sagen, dass für dich persönlich der Zivildienst ein Einstieg in die internationale Entwicklungszusammenarbeit war?

Nicht "ein Einstieg". "Der Einstieg". Ich wurde von dorther motiviert. Hans Lehmann, mein ehemaliger Gymilehrer, der erzählte bereits 1945 vom Zivildienst und machte damals als mittelalterlicher Herr noch Einsätze während seiner Schulferien. Davon erzählte er uns.

Wir fragen uns auch heute, wie wir Leute für so einen Einsatz begeistern und bewegen können. Ich denke, dass wenn man jemanden persönlich kennt, der das gemacht hat, dies immer noch die überzeugendste Art der Werbung ist. Keine Broschüre kann dem gleichkommen. Wir müssen mehr auf das Netzwerk setzen, auf persönliche Kontakte und Begegnungen. Sowie Schnupper-Einsätze zu ermöglichen, damit jemand überhaupt erst auf den Geschmack kommen kann.

Heute sind die meisten Einsätze zweiwöchige?

Meistens, ja.

Das war damals noch nicht so. Es gab auch einwöchige Einsätze, aber meistens dauerten sie drei/vier Wochen. Zwei oder drei Mal war ich ein Monat oder länger im Einsatz.

Ja, Langzeit-Einsätze bieten wir auch heute noch an. Vor allem in Ländern weiter weg.

Ja, schon damals schickte man long-term volunteers nach Asien. Nach Indien oder Sri Lanka zum Beispiel1 Thedy von Fellenberg war so einer. Darüber gab es eine Diskussion im Komitee. Man wollte diesem Berner Patrizier eine Chance geben.

Wie nimmst du denn den Service Civil International SCI Schweiz heute wahr? Vor allem über die Zeitschrift nehme ich an?

Ja, ich habe die Zeitschrift und noch ein paar persönliche Kontakte. Ich zähle mich nach wie vor dazu. Dass es heute andere Schwerpunkte und Formen gibt, ist in Ordnung. Das ist richtig. Es wäre falsch, wäre es noch gleich wie vor sechzig Jahren.

Welche Veränderung fällt dir am meisten auf?

Dass das persönliche Erlebnis mehr im Vordergrund steht. Die verschiedenen Formen von Jugendarbeit und der SCI als eine dieser Möglichkeiten. Was seine Position wahrscheinlich eher schwächt. Früher gab es noch nicht so viele andere Möglichkeiten. Dadurch auch die weniger bewusste Fokussierung auf die pazifistische Orientierung. Aber diese ist natürlich wesentlich verbunden mit der Forderung nach dem Alternativdienst. Ich kannte noch viele, die als Dienstverweigerer im Gefängnis gelandet sind. Die das miterlebt haben. Mit ihnen litten wir mit. Das ist heute nicht mehr da. Fridolin Trüb, von dem ich damals das Präsidium übernahm. Gut, der war nicht im Gefängnis.

Fridolin Trüb, der schrieb über seine Zivildienst-Einsätze Tagebuch und illustrierte die Einträge zum Teil mit Zeichnungen. Der SCI-Archivar Heinz Gabathuler hatte uns das einmal aus dem SCI-Archiv mitgebracht und gezeigt.

Ich übernahm von ihm das Präsidium zusammen mit Louise Wetter. Erstmals ein Co-Präsidium: ein Mann und eine Frau!

Hattet ihr dieses Co-Präsidium extra aus ideellen Überlegungen eingesetzt?

Es war die erste Frau, die wir in diese Position hievten! Wenn ich mich richtig erinnere, war sie die Tochter eines vormaligen Bundesrats.

Ach ja, das ist interessant. Innerhalb des internationalen Zivildienstes gibt es eine Gruppe, welche Frauenbiografien innerhalb der Bewegung sichtbarer machen will.

Ich meine, dass ich das Präsidium an Margrit Mauderli übergeben habe. Irrtum vorbehalten. Aber das kann man im Archiv alles nachschauen.

Wie wurde damals der Einbezug der Frauen in der Zivildienstbewegung diskutiert?

Da waren wir schon sehr emanzipiert. Die Frauen galten bei uns als voll und gleichwertig. Einzig: Wir waren Freunde, konnten sie aber nicht "Freundinnen" nennen, weswegen sie als "Schwestern" bezeichnet wurden. Frauen im Zivildienst wurden Schwestern genannt. Und dann den Namen.

Lustig. Das könnte man sich heute nicht mehr vorstellen!

Aber es wäre falsch zu sagen, dass nur weil man die Frauen vor siebzig Jahren Schwestern nannte, sei man anti-feministisch gewesen. Im Gegenteil!

Nein, Schwester ist ja kein negativer Begriff, sondern klingt sehr solidarisch.

Ja. Man muss es immer im Kontext sehen.

Du sagst, dass die direkte Kriegserfahrung für euch prägend war oder dass Kriegsdienstverweigerer im Gefängnis landeten, nur wegen Gesinnungsfragen. Diese Erfahrung fehlt unserer Generation so unmittelbar. Dies hat euch sicherlich zu eurem Engagement für den Pazifismus motiviert. Und auf dem politischen Spektrum gilt dies heute als eher linke Positionen. Wohingegen unsere Generation heute Fluchtbewegungen und Immigration erlebt und dies eher dazu führt, dass viele Menschen in der breiten Gesellschaft eher am rechten politischen Spektrum Halt und Identität finden. Ängste herrschten bezüglich drohender Arbeitslosigkeit und Überfremdung. Es ist einfach ein Elend…

Zu unserer Zeit war die Motivationssituation vermutlich einfacher und klarer und akzentuierter und es gab auch weniger Möglichkeiten, ihr Ausdruck zu geben. Aber wir waren natürlich immer eine Randgruppe. Das ist klar.

Ja, aber bei vielen zog sich das Engagement durch ihr ganzes Leben. Sie übernahmen verantwortungsvolle Funktionen. Der Zivildienst scheint nicht nur eine jugendliche Sturm- und Drang-Phase gewesen zu sein, sondern Ausdruck einer inneren Haltung und Grundwerten.

Ja, beispielsweise Hansjörg Braunschweig. Ein Jurist aus Basel. Er kam nach Zürich, um das Sekretariat zu übernehmen. Als Jurist vertrat er viele Dienstverweigerer. Er war dann lange Jahre Präsident vom Friedensrat. Beruflich war er in Zürich Amtsvormund, bei der Vormundschaftsbehörde. Auch als späterer Nationalrat setzte er sich für diese Anliegen ein. Ich habe heute noch einen guten Kontakt mit seiner Frau Sylvia. Die machte auch Zivildienst. Deren Sohn Thomas studierte auch Landwirtschaft und ist nun bei Public Eye. Das war schon ein bisschen eine Familie.

Das Interview vom 17. November 2017 führte Nicole Cornu, damals Mitglied des Komittees des SCI Schweiz.

 

Anhang

SCI Schweiz für einen Ausbau des Zivildienstes

Aus diesem Grund ist der Service Civil International (SCI) Schweiz auch Mitglied bei 2010 gegründeten Schweizerischen Zivildienstdachverband CIVIVA, der den Zivildienst als wertvollen
Dienst erhalten und ausbauen möchte.

Parlamentarische Vorstösse

Vgl. die vom Nationalrat abgelehnt Motion 11.3957 «Freiwilliger Zivildienst für alle» der ehemaligen Nationalrätin Anita Lachenmeier: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20113957
Und das vom Nationalrat abgeschriebene Postulat «Freiwilliger Zivildienst» der ehemaligen Nationalrätin Barbara Häring: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20063405

Studienbericht

Bericht der Studiengruppe Dienstpflichtsystem vom 15.03.2016, v.a. Kapitel 2.1.4 Zulassung zum Zivildienst und Dienst im Zivildienst, 3.3.3 Gemeinnützige Freiwilligenarbeit, 5.3.2 Freiwilliger
Zivildienst (Prüfauftrag B2), 6.4 Modell 4: «Allgemeine Dienstpflicht» sowie 7.3.4 Bewertung des Modells 4: «Allgemeine Dienstpflicht».
Link: www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/44794.pdf




Service Civil International - International Archives (2004-2024) - Conditions of Use - Contact